Texte zu da sein, Ausstellung im öffentlichen Raum, Linz 1996; Auszüge aus dem Katalog

Eröffnungsrede Ermin Döll, Zen-Lehrer und Theologe

Auf dem Titelblatt eines großen österreichischen Wochenmagazins prangte vor kurzem das Bild des nackten Bundeskanzlers mit der Anspielung auf „Des Kaisers neue Kleider“. Natürlich würde der Kanzler sich selbst niemals nackt abbilden lassen. Politiker dürfen sowieso niemals alles zeigen oder aufdecken. Wie kommt nun ein Künstler wie Hermann Staudinger dazu, einen Menschen nackt darzustellen, noch dazu in voller Größe? Ist es narzisstische Selbstentblößung? Will der Künstler provozieren oder schockieren? Was ist der Unterschied zur Pornographieflut, von der wir überschwemmt werden?

Pornographie verfolgt immer einen Zweck. Echte Kunst dagegen ist zweckfrei. Ein Kunstwerk wird nicht geschaffen „um zu“. Der echte Künstler läßt sich nicht auf einen bestimmten Zweck einengen in seinem Schaffen. Er durchbricht die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Zwänge des „um zu“. Er handelt aus einem inneren Antrieb heraus, aus innerer Notwendigkeit.

Er muß sein Werk schaffen, ohne zu fragen, oh es gefällt oder ankommt. Die vielgepriesene Freiheit des Künstlers ist eher eine Notwendigkeit, der sich der Künstler freiwillig unterzieht. Aber obwohl oder gerade weil das Kunstwerk keinem Zweck dient, hat es tiefen Sinn; hat es eine Aussage für den, der sich darauf einläßt. Worin könnte die Aussage, die Botschaft dieser Ausstellung bestehen?

Kleidung, das bedeutet einmal Schutz. Wer seine Kleider ablegt, setzt sich der Verletzbarkeit aus. Das tut Hermann Staudinger bewußt. Mit der Kleidung kann ich auch etwas zudecken, verhüllen, verbergen, z.B. einen körperlichen Mangel.

Und „Kleider machen Leute“. Ich kann etwas aus mir machen, wenn ich mich entsprechend anziehe. Ich mache eine gute Erscheinung. Mache mehr aus mir, als ich bin. Und wenn ich nun auf meine Kleider verzichte, was bin ich dann?

Im Falle der „neuen Kleider des Kaisers“, bzw. Kanzlers, wollte das kritische Magazin natürlich die Feststellung des Kindes, das als einziges die nackte Wahrheit ausspricht, wiedergeben: „Der ist ja nackt!“ Seine Taschen sind leer.

Nacktheit hat etwas zu tun mit Haben oder vielmehr Nicht-Haben. Es geht um Werk von Hermann Staudinger um die Frage: Haben oder Sein, Es ist die Frage, um die es grundsätzlich in unserer modernen Gesellschaft geht, wie Erich Fromm meint, der dieser Frage ein ganzes Buch gewidmet hat. Noch nie im Laufe der Menschheitsgeschichte konnte der Mensch soviel haben, sich mit so vielen Dingen umgeben. Sein ganzes Leben strebt der Mensch danach, mehr zu haben, mehr und immer noch mehr. Und dabei verliert der Mensch den Blick für das Sein, für das Einfach-Sein, das Einfach-Dasein. Vergißt einfach zu leben.

Ich habe Hermann Staudinger kennengelernt, als er zu einem meiner Meditations-seminare kam, um Zen zu praktizieren. Im Grunde geht es eben darum zu erfahren: „Wer bin ich?"“, geht es um die Erfahrung des nackten Selbst, nach dem Durchstoßen aller Illusionen und Selbsttäuschungen.

Wie Hermann Staudinger mir die Idee und das Konzept dieser Ausstellung zum ersten Mal vorstellte, sagte ich spontan zu ihm: „Das ist ja reinster Eckehart, das ist das Grundkonzept Meister Eckeharts". Wenn Erich Fromm von Haben und Sein spricht, so hat er Meister Eckehart aufgegriffen. Was Eckehart so modern macht, ist eben dies: Wir spüren alle, dass es nicht so weitergehen kann mit dem Mehr und ImmerMehr. Und dass die Lösung nicht im Sparpaket liegen kann. Wir merken, dass wir mit dem Uns-mit-immer-mehr-Umgeben und dafür immer-mehr-Produzieren und immer-mehr-Agieren-und-Rotieren uns immer mehr von uns selbst entfernen, uns uns selbst entfremden, den Kontakt mit uns selbst verlieren, mit dem, was wir sind.

Darum aber ginge es doch. Was wir haben, das können wir verlieren. Was wir uns zugelegt haben, kann uns auch entrissen werden. Und auch das Tun und Agieren kann uns genommen werden. Aber was wir sind, das kann uns niemand nehmen. Meister Eckehart sagt einmal:

„Die Leute sollten nicht soviel überlegen, was sie tun sollten; sie sollten vielmehr bedenken, was sie sind.“ Das Tun folgt aus dem Sein und nicht umgekehrt. So aber will es unsere Gesellschaft: „Hast du was, bist du was. Kannst du was, so bist du was.“ Wir finden also unsere Identität in dem, was wir haben und leisten, statt in dem, was wir sind.

So braucht es nicht zu verwundern, wenn Meister Eckehart immer wieder spricht von „Ledigsein“, uns „entledigen“, von „bloß“. „entblößt“, „nackt“, und „unverhüllt“. Es geht ihm um das nackte Sein und die unverhüllte Wirklichkeit dessen, was ist und darum um das Bloßlegen und Wegnehmen von allem Zugelegten und Hinzugefügten, bis das reine Wesen, das wesenhafte Sein zu Tage tritt. Wie es später Angelus Silesius formulieren wird: „Mensch, werde wesentlich!“

Frappieren mag uns vielleicht, wenn Meister Eckehart auch dann, wenn es um Gott geht, von „bloß“ und „nackt“ spricht. Dass wir Gott bloß und nackt nehmen müssen. Er spricht ganz anschaulich davon, dass wir Gott nehmen sollen „in der Kleiderkammer“, bevor ihm die Kleider angelegt werden. Das ist es ja, glaube ich, warum viele heute nichts von Gott mehr hören können, weil man ihm zu viele Kleider umgehängt hat, oft lächerliche.

Gott oder die Gottheit, wie Eckehart sagt, ist in seiner Bloßheit reines Sein. Das heißt, er ist. Das aber schlechthin und fraglos. Wie Gott in der Bibel von Moses gefragt wird, wie er heißt, antwortet er einfach: „Ich bin da. lch bin der Ich-Bin-Da“. Gott hat es nicht nötig, etwas zu haben oder etwas zu tun. Er ist, er ist alles. Sein ganzes Wesen ist Sein, Dasein. Und wir ahnen es: einfach dasein können; sein können, der man ist; sagen können: Ich bin – etwas Größeres kann es nicht geben.

Können wir etwas dazu tun, um zu dieser befreienden Erfahrung des einfachen Daseins zu kommen? Erich Fromm antwortet auf die Frage: „Was sollte der Mensch denn tun?“ – „Zunächst einmal ...Meditation; dass der Mensch lernt, einfach er selbst zu sein, nichts zu tun und in einen Zustand der Harmonie mit sich selbst zu kommen.“

Nichts tun, das führt den Menschen dahin, sein Nackt- und Bloßsein zu erkennen und auszuhalten. Man zieht sich nicht immer freiwillig ans. Oft werden einem die Kleider vom Leib gerissen in äußeren und inneren Erschütterungen und Krisen. Davon könnte uns Hermann Staudinger einiges berichten aus seiner Laufbahn. In einem Brief hat er mir vor einem Jahr geschrieben: „Dass ich da immer Krisen brauche, um auf mich selbst zu stoßen!“ er spricht darin aber auch von „meiner heiligen innersten Einsamkeit“. Ist das nicht dieses einfach Dasein? Und er erwähnt ein Wort von Jimenez: „reine Einsamkeit Deines schweigenden und sicheren Wesens“.

Lassen Sie mich schließen mit einem Wort Meister Eckeharts: „Wäre der Mensch ganz und gar entblößt und enthüllt von allen Mitteln, so wäre auch Gott für ihn entblößt und enthüllt und Gott würde sich ihm ganz und gar geben“. (DW P 69)

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Katalogtext Epiktet (50 - 138 nach Christus)

Das Wesentliche ist doch, daß man einer jeden Kunst ihre eigentümliche Bedeutung läßt und dann prüft, welchen Wert es hat, sie zu können, und daß man das Wichtigste auf der Welt begreift, und diesem bei allem, was man tut, nachjagt, dies mit größtem Ernst betreibt, dagegen alles andere im Vergleich hiermit als Nebensache behandelt; doch soll man auch diese nicht vernachlässigen, soweit das möglich ist. Man muß sich ja auch um seine Augen kümmern, doch nicht so, als ob sie die Hauptsache wären, sondern auch um sie wegen der Hauptsache: weil sich diese (erg. die Vernunfterkenntnis) sonst nicht ihrer Natur entsprechend entfalten kann, falls sie nicht hierin (erg. im Bereich der Nebensache) mit Überlegung handelt und das eine vor dem ändern auswählt.

Was bedeutet nun solche Handlungsweise (erg. D.h. jener Jünger der Philosophie, die, durch die für diese propädeutischen Wissenschaften gefesselt, die Philosophie selbst vergessen und in jener steckenbleiben.)? Es ist gerade, wie wenn jemand, der auf der Heimreise in sein Vaterland an einem hübschen Gasthause vorbeikommt, das ihm gefällt, nun in diesem Gasthause dauernd bleiben will. Mensch, du hast ja dein Ziel ganz vergessen! Du wolltest doch nicht in das Gasthaus reisen, sondern an ihm vorbei! „Aber es ist doch so hübsch hier!“ – Wie viele andere Gasthäuser sind ebenfalls hübsch, wie viele Wiesen! Doch offenbar nur als Durchgangspunkt! Dein Ziel war aber doch, in dein Vaterland heimzukehren, deine Angehörigen von der Sorge um dich zu befreien und selber zu Hause deine Bürgerpflichten zu erfüllen: dich zu verheiraten, eine Familie zu gründen und die öffentlichen Ämter zu übernehmen; du bist doch nicht gekommen, um die hübschen Gegenden für uns auszukundschaften, sondern um in dem Lande, wo du geboren bist und als dessen Bürger du eingetragen bist, zu leben und zu wirken. – Eben ein solcher Fall liegt hier vor: da man nur durch die Wissenschaft und die ihr entsprechende Lehre zum Ziel gelangen, sein eigenes Wollen läutern und die Fähigkeit zum Gebrauch unserer Vorstellungen richtig ausbilden kann, und da es notwendig ist, daß die Überlieferung der Lehren in einer bestimmten Form der Rede mit einer gewissen Mannigfaltigkeit des Stoffes und einem gewissen Scharfsinn in der Behandlung der Probleme erfolgt, so kommt es, daß mancher, von ebendiesen Dingen gefesselt, dauernd hierbei stehenbleibt, der eine von der Form der Rede, der andere von den logischen Schlüssen angezogen, ein dritter von gewissen dialektischen Feinheiten, ein vierter von irgendeinem andern „Gasthaus“ der Art, und, einmal hängengeblieben, verkommt, wie bei den Sirenen.

Mensch, dein Ziel war doch, dich zu einem Manne zu bilden, der die auf ihn eindringenden Vorstellungen gemäß der Natur zu gebrauchen vermag, der beim Begehren sein Ziel nicht verfehlt, beim Meiden nicht dem zu Meidenden verfällt, niemals Mißgeschick hat oder Unglück, der frei, unhemmbar, unüberwindlich ist, der in seinem Herzen mit der Weltregierung des Zeus übereinstimmt, ihr gehorcht, an ihr sein Wohlgefallen hat, niemanden tadelt, niemanden beschuldigt und aus tiefster Seele die Worte zu sprechen vermag:

„Zeus, führe du mich, und Verhängnis, du zugleich“, – und da willst du, wo du dir dieses Ziel gesteckt hast, wenn dir der pikante Ausdruck eines Redekünstlers oder gewisse Lehrsätze der Logik gefallen, dabei stehenbleiben und dich ansiedeln, während du die Heimat vergißt, und sagst noch: „Das ist mal hübsch hier!“ – Wer sagt denn, daß, es nicht hübsch wäre? Aber doch nur als Durchgangspunkt, als Gasthaus! Wer hindert denn, daß man reden kann wie Demosthenes und doch todunglücklich ist? Daß man Trugschlüsse auflösen kann wie Chrysipp und doch unglückselig ist, voll Gram und Neid, kurz, daß man keinen inneren Frieden hat und von einem bösen Geist besessen ist? – „Nichts.“ – Siehst du nun ein, daß jene Dinge Wirtshäuser waren, ohne jeden Wert, während das wahre Ziel ein ganz anderes ist?

Wenn ich solche Gedanken vor gewissen Leuten äußere, dann meinen sie, daß ich das Studium der Redekunst oder der Logik herunterreißen will. Ich aber denke gar nicht daran, sondern verwerfe nur, wenn einer dauernd bei diesen Wissenschaften stehenbleibt und hierauf all seine Hoffnungen setzt. Wenn jemand, der diesen Standpunkt vertritt, seine Zuhörer schädigt, dann betrachte auch mich als einen solchen Schädling. Ich vermag aber nicht, wenn ich etwas als das Beste und allein Maßgebende erkenne, an seiner statt etwas anderes dafür auszugeben, nur, um euch zu gefallen.

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Thomas Lagemann, Künstler

meine haut und alles was dazugehört

ich in mir.

gedanken wiederholen sich

als müßte ich sie auswendig lernen.

die unterlippe zwischen mittel- und zeigefinger.

ein leichter wind kitzelt meine Wimpern.

kleinigkeiten machen leute.

ich in mir.

gedanken überdenkend.

efeu klebt buschig an geduldiger ufermauer.

gezwitscher unsichtbarer vögel.

oder zwitschern die bäume?

mit dem richtigen blau ist gelb meine lieblingsfarbe.

mit dem richtigen grün, rot.

erinnerungen steigen mir in die nase

und legen mich in die wiese.

im vorbeigehen.

ich in mir.

denke,

lebe,

denke, daß ich lebe,

liebe.

wasche mir morgens meine träume aus dem gesicht.

der tag so selbstverständlich,

als hätte es nie eine nacht gegeben.

ich sehe unmalbare bilder.

denke unschreibbare bücher.

der himmel wie eine frisch gekalkte wand mit feuchten flecken.

im glas der Flügeltür flitzen bäume vorbei.

ich in mir.

möchte teilen,

möchte mitteilen,

möchte mit dir teilen,

meine haut und alles was dazu gehört.

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Gerhard Wünsche, Künstler und Restaurator

Aufforderung

Heiter, fröhlich tanzt und dreht

Schwestern, Brüder

geht und sät.

Es schmeckt

auf unserer herrlichen

Mülldeponie Welt.

Horcht,

denn hier schneidern wir

Frühlingsstimmen

Krüppel haben so was Rührendes, ja Rührendes, Umrührendes, Quirliges, denn – wer hat nicht schon beobachtet, mit welchem Elan, welcher Kraft Behinderte kämpfen, dem Schicksal trotzen, so daß viele sogenannte wehleidig Gesunde beschämt sein müßten.

Am Beispiel des Pianisten Wittgenstein, der einen Arm verloren hatte, wird deutlich, Ironie des Schicksals, daß dadurch und gerade deswegen ihm Einmaligkeit, Originalität zuteil wurde. Freunde komponierten für ihn Klavierstücke für eine Hand. Ein Glücksfall.

Ich sah Mongoloide tanzen, mit einer Lebensfreude, die ansteckend war und jedes Mitleid ad absurdum rührte: Ja, Krüppel haben eben etwas impulsiv Umrührendes.

Es gab, gibt einbeinige Tänzer, Sportler, die uns Bewunderung abringen. Invalide Künstler mit immenser Aussagekraft. Es wird gedacht, gesagt, Wichtiges in den Raum gestellt, gewirtet, gerodet, Platz in Besitz genommen.

Behinderung ist nicht Verhinderung.

Die Stärke, Kraft, aber auch die Gunst, das Glück, das der Tüchtige braucht – seien mit Dir.

Staudinger, go on.

in herzlicher Freundschaft

G. Wünsche

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spalten

Ich liebe alles Weibliche, Weiche, Anschmiegsame.

An gestraffte Haut zu kuscheln, ein Stück Deines Milchbusens zum Beißen.

In die Häute des Lebens mich zu schmiegen, in alle Spalten, zwischen alle Lippen, Glück zu dringen Im Fluß der Säfte und unserer Feuchte unsere Herzen waschend.

In Deinen Haaren Urwald, Dickicht, Tropen und der Schrei von wilden Tieren in unseren Seelen.

Wildnis.

Liebe.

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religiöser

Ich glaube, daß heute ein religiöser Mensch, oder sagen wir besser ein kontemplativer Geist, meine Arbeit besser verstehen kann als ein sogenannter Künstler, also als einer, der in formalen Fragen ausgebildet ist.

Wieso? Die Frage bei den meisten künstlerisch-tätigen Menschen läuft meines Erachtens nach falsch, am Wesentlichen geradeaus vorbei auf die Problematik hin: „Wie ist etwas gemacht, wie ist es dargestellt? Gibt es andere stimmigere Varianten der Darstellung des Gezeigten?“

Hier offenbart sich meiner Meinung nach das ganze Dilemma. Man geht von außen an eine Arbeit heran, untersucht deren Oberfläche, um im günstigsten Fall ins Innere des Werkes vorzudringen (Ich fürchte, daß das meist nicht einmal ansatzweise gelingt).

Der mystische Mensch hingegen stellt sich selbst pausenlos zur Verfügung, er betrachtet den eigenen inneren Spiegel und die Reflexionen und Brechungen, die das Licht der Außenwelt an diesem bewirkt. Weil er so also mit und in seiner innersten Natur handelt und existiert, trifft er das Kunstwerk auch in seinem Innersten an – der, so meine ich, einzig adäquate, der Kunst entsprechende Raum.

So läßt diese existentielle Ebene, man könnte sagen die Ebene des reinen Seins, keinen Gedanken aufkommen, der sich mit Machart oder formalen Fragen beschäftigt. Es heißt hier:"Wer bin ich – wer bist du?", erst in späterer Folge werden die Formen der Erscheinung behandelt. Der mystische Charakter läßt sich also auf ein Kunstwerk EIN, er scheut nicht davor zurück, In Frage gestellt zu werden; von einer Erscheinung, die möglicherweise mehr Präsenz besitzt als er selbst.

Eine Kunst und ein Mensch dieser aufgezeigten Art können erst in einen fruchtbaren Austausch treten, der über ein wohliges Streicheln der Netzhaut und der Stirnlappen hinausgeht. Dann erst wird die alte Frage berührt: Wer sind wir, woher kommen wir, wohin gehen wir?

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es ist notwendig …

Es ist not-wendig, alles zu zeigen.

Sich aus komprimierter Geballtheit, zerknittert, in bedächtiger Entfaltung zu öffnen, Blatt für Blatt. Es geht nicht anders und es führt kein Weg daran vorbei.

Man muß wieder Luft bekommen in enge Kanäle, in das miniaturisierte, verdichtete Leben der eigenen Veranlagung. Das innere Reich, zu Erdnußgröße geschrumpft, will sich ausdehnen, die Leichen im Keller einen frischen Luftzug spüren, der sie aus ihren Dornröschenschlat erweckt.

Wenn Du den Krieg gewinnen willst, kannst Du nicht nur mit Deiner heiligen Priesterschar aufmarschieren. Es bedarf auch der Diebe und Huren, der Spaßmacher und Ficker, der mächtigen muskulösen Krieger und der verwundbaren jungen Mütter.

Das Leben will Dich ganz umarmen, so zeige Dich ihm ganz. Mach' Dein Hemd auf, laß Deine Hose fallen, öffne Deine Haut. Laß es zu, daß Du getötet wirst, verwundet.

Hab keine Angst, das, was Dich ausmacht, wird Dich immer ausmachen und hat Dich immer ausgemacht. Du bist ewig die Sonne, der Wind oder das Meer. Wage den Sprung, gib Dich hin, ganz.

Es ist notwendig, alles zu zeigen.

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schlangengrube

Jeder hat eine Schlangengrube in sich, eine versteckte, dunkle Enklave für wilde Tiere des Hasses, der Verstörung, der Angst, die der Schmerz, die Hölle der eigenen Herkunft und Erziehung nur in diesem dunklen Verlies, weitab des klärenden Tageslichtes, ablegen und gebären konnte.

Es sind ungewollte Kinder, deren Geburt, deren vollständige Präsenz die eigene Existenz zerstört hätte. So warten Sie in diesem Loch, dem einzigen Raum im Menschen, in dem sie versteckt werden konnten, auf das mutige, starke und unerschrockene Selbst, um sie ins Leben zu bringen. Sie wissen nichts davon, daß sie in den Augen der Welt als böse gelten, sie leiden stumm und warten auf den Moment ihrer Befreiung und Erlösung, gelegentliche Schreie der Klage durch den Organismus stoßend, unmerkliches Wimmern, das allzuleicht als Sodbrennen oder Herzstechen mißdeutet werden kann und meist auch wird.

Ist der Mensch zu sich gekommen, hat er erst (oft unter Schmerzen) verstanden, daß es nichts Böses in ihm geben kann, daß es nicht nötig ist, sich gegen sich selbst zu verschanzen, weil es keinen Feind geben kann in einem Universum der Liebe, erst dann kann dies geschehen:

Mit forschendem Schritt beginnt das Selbst, das eigene Reich zu durchmessen. In jeden Schrank wird geschaut, unter jedes Staubkorn geblickt mit liebendem, klärendem Auge. Auch die Kellertüren öffnen sich und erhellt vom Licht der Zuneigung und Liebe zu allen Arten des Lebens, allen Formen, wird auch die Schlangengrube entdeckt; hinter einem Berg abgelegter Akten zu nicht endenden Berufungsverfahren gegen Abschiebung und Weglegung des ungewollten Lebens.

[Die Gerichtsverfahren zu diesen Akten haben einst eine Eigendynamik entwickelt, als das Denken glaubte, massiv eingreifen zu müssen und eine Unzahl von Spezialisten herbeizog, die mit einer Anhäufung von Diagrammen, Tabellen, Kurven und Zahlen das verdrängte Leben untersuchen sollten, welches auf sein Recht pochte mit schmerzendem Wimmern hinter der Verliestür.

Die Spezialisten verloren während ihrer endlosen Untersuchungen das Interesse an ihrem Gegenstand und bauten sich aus den verwendeten Zahlenreihen eigene Schlüsse, die bewiesen, daß es außerhalb dieser Reihen kein Leben geben konnte und durfte, weil es von ihren Untersuchungsgeräten, eine Unzahl elektromagnetisch-chemisch-physikalischer Apparaturen, so angezeigt wurde.

Nur hin und wieder verirrte sich ein Gerichtsdiener mit einem Bündel Akten zum Verlies. Da ihn in seiner Kammer das Wimmern der Kreaturen störte (von denen die wenigsten Genaueres wußten – man munkelte von einem, der sie zu Gesicht bekommen haben sollte durch einen Spalt in der Verliestür, und der soll von riesenhaften Schlangen gesprochen haben mit weißlich-schimmernden Häuten), um also diese Klagelaute nicht vernehmen zu müssen, begann der Diener kurzerhand damit, mit Aktenbündeln die Tür zuzumauern.]

Zurück zu unserer Geschichte: Nun entdeckt das Selbst hinter dem Aktenberg die Tür zum Schlangenloch. Nachdem sein Blick über die Diagramme und Tabellen gewandert ist, es aber von Wissenschaft und kausalen Schlüssen nichts versteht, öffnet es die Tür zum Kerker, im Vertrauen auf die eigene Stärke alle Warnschilder wie: “Vorsicht Ungeheuer!" oder “Höchste Todes- und Lebensgefahr!" ignorierend. Nur schwach und leise dringt ein Wimmern an sein Ohr als es die Tür aufmacht, die, obwohl sie mit zahllosen Schlössern gesichert scheint, sich bereitwillig mit einem leichten Druck auf die Türschnalle öffnen läßt.

Was sieht unser Held jetzt, im Licht, das durch die geöffnete Tür fällt? – Der Boden, die Wände, die Decke, alles ist übersäht mit blinden Raupen, welche zwar Ähnlichkeiten mit Schlangen aufweisen, aber um einiges kleiner sind und keinerlei Bedrohung ausstrahlen.

“Und Euch hat man hier weggesperrt, jede von Euch das Kind einer unglücklichen Geschichte. Ich werde Euch erlösen." Und er nimmt eine nach der anderen, ohne Unterschied, auch die großen mit der durchsichtigen Haut. die wie verkümmerte Embryonen aussehen, und trägt sie über die Treppe nach oben ins Freie. Dort legt er sie in den Schatten, bettet sie weich auf grünen Blättern und sieht mit Freude, wie nach kurzer Zeit einige beginnen sich auszurollen und an den Blättern zu essen.

Am nächsten Morgen, nach einem traum-losen Schlaf, tritt das Selbst aus seinem Haus, dem Herzen, und sieht es überdeckt von weißen Kokons. Die Raupen haben sich also verpuppt, das Leben ist weitergegangen. Und dann, eines Tages, schlüpfen sie aus, Schmetterlinge in allen Farben, Größen. Manche mit durchsichtigen Flügeln, goldenes Licht reflektierend, andere dunkelblau leuchtend wie die See. Und einer nach dem anderen hebt sich in die Luft. Als alle geschlüpft sind, versammeln sie sich vor dem Haus, und der größte von Ihnen, ein golden-wässrig leuchtender Falter von zerbrechlichster Haut, spricht:

“Wisse, daß wir nur Deinetwegen in diesem Kerker am Leben geblieben sind. Wir wußten. Du würdest kommen eines Tages, Dein Versprechen einlösend, das Du uns als kleines Kind gegeben hast. Vielleicht weißt Du es nicht mehr – wir alle haben mit Dir gespielt, bevor Du in die Schule des Ichs mußtest und in Deinem Leben kein Platz mehr für uns war. Von jedem einzelnen von uns hast Du Dich noch verabschiedet und ihm zugerufen “Ich hol Dich raus, wenn ich groß bin".

Jetzt ist unsere Zeit gekommen, wir fliegen zurück in die Sonne, Dir voraus. Wisse, daß unsere Liebe zu Dir ewig ist und wir immer ein Teil voneinander sein werden. Sei Du selbst, ein Leben lang." Mit diesen Worten verabschiedete sich die Schar, flog auf und hob sich in den Himmel.

Und das Selbst? – Es hatte sein Reich durchmessen, alles aufgeräumt, geputzt und in Ordnung gebracht (das Verlies war jetzt ein Weinkeller). In der warmen Abendsonne sitzt es auf der Bank vor seinem Haus und wartet auf den Herzensfreund, den es auch vor langer, langer Zeit verloren hatte, mit dem Versprechen, sich wiederzusehen am Ende der Zeiten.

Aber das ist eine andere Geschichte.

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Einsamkeit

Einziger Besitz, Begleiter, An-wesen.

Isoliert von anderen, in der Fremde, sich der eigenen Form bewußt werden,

Was ist das, „ich“? – die Grenzen werden umfahren, die Haut, die Hülle begriffen – staunend still stehe ich in mir.

Zu den Grenzen des ichs schreiten, um das Leben zu erfahren.

In der Dünne der Luft atmen.

Grenzbewohner.

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wahre künstler

Die wahren Künstler wissen nichts von sich, sie wissen nicht, daß Ihre Selbst-verständlichkeit als Mensch, als lebendes Wesen, das einfach existiert, daß diese Selbst-verständlichkeit etwas ganz und gar nichts Selbstverständliches ist In den Augen der blinden Welt. Sie wissen nichts von sich als König und Gottesmutter, daß das, was sie empfinden und sind (und oft genug als Dummheit wahrnehmen oder als selbstverständlich nicht ernst zu nehmend), von großem, stillen Wert ist.

Wie sollte ein Kind beim Spielen auf die Idee kommen, seine Spiele seien etwas Wertvolles für jemand anderen: seine unschuldige Freude am Sandkuchen sei dem Besitz der Sacher-Konditorei vorzuziehen?!

Die kleine, intime Freude am eigenen Da sein, dieses unscheinbare etwas, das keinen Gewinn versprechen kann und keine Leistung voraussetzt, die Lust, am Leben lebendig zu sein wie ein Apfel am Baum, das ist es, was einen wahren Künstler kennzeichnet, auf seinem Herzen geschrieben steht wie ein unsichtbar strahlender Orden.

Wenn man vom Wasser umspült ist, vom Anfang an, wie sollte man erkennen können, daß es Trockenheit gibt, Verkarstung, Verknöcherung und Erstarrung? Wenn man ein Kind geblieben ist, sich selber treu, wie könnte man die verstehen, die sich selber verraten haben an eine Lawine von toten Gedanken, von Welt, von Realität?

Jeder, der aus der Apokalypse seiner Herkunft und Erziehung etwas anderes gemacht hat als das übliche, selbstzufriedene Grab, soll Überlebender genannt werden.

Wir haben überlebt, wir spüren noch die Sonne der Kindheit, und wenn alle davon vergessen haben sollten, so laßt uns dennoch davon künden, daß das Paradies noch immer offen steht. Dafür sind wir da.

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jesus

da sein - Ausstellung im öffentlichen Raum, Linz 1996. Katalogtext H.S.

Wo ist Deine Schwester, Jesus? Deine Brüder, Deine Onkel, Nichten und Neffen?

Man hat uns über Dich belogen, Herr, Dich zum Fremden gemacht; auf einer Welt voller Menschen Dich zum Sternenbewohner hinaufgehoben und entrückt, damit es nicht so schmerzt, welch wunderbarer Mensch Du warst und wie weit wir von Deinem Beispiel entfernt sind.

Wenn Du ein Sohn Gottes bist, Gott Dich in und aus seiner Liebe geboren hat, wenn Du ein Geschöpf der reinen Liebe bist: wie wäre es möglich, daß diese Liebe endlich ist, daß sie bei Dir endet und all die andere Welt ausschließt?!

Hast Du gewußt, daß wir alle Kinder Gottes sind, ohne Ausnahme, bis hin zum Kinderschänder, Hitler und Stalin? Warum hast Du es zugelassen, daß sie Deine Heiligkeit verehrten und Dir folgten, ohne ihre eigene Heiligkeit zu erkennen und ihr zu dienen?! Warum hast Auch Du letztlich die Unmündigen verführt dazu, einen fremden Mund anzunehmen, eine fremde Sprache (und sei sie auch noch so heilig, vom Herzen der Schöpfung erklingend)?! Du hast Deine Herkunft erkannt, warum nicht die der um Dich, die Dich so liebten?

War die Welt damals nicht bereit für diese Botschaft, hast Du sie ins Gewand der Hierarchie und des „Ja, Meister" kleiden müssen? Mein Herr, meine Liebe, mein Bruder: Wisse, daß ich mich von Dir betrogen fühle.

Wenn jedes Staubkorn den Glanz des endlosen Kreislaufs atmet, an jeder Zelle die selbe Inschrift anschwingt, wie kannst DU Dich darüber erheben, Dich ausschließen, indem Du vorgibst, die einzige Wahrheit zu sein?

Mach mich nicht lachen, Herr: Dein Akt der Befreiung ist nicht weit genug gegangen: Daß der Mensch es vorzieht, in selbst-gewählter Isolierung und Blindheit zu leben, war schon vor 2000 Jahren keine Neuigkeit. Wie konntest Du diesen Gefängnissen eine neue Farbe geben, es zulassen, daß sie mit Deinen Worten ihre Gitterstäbe vergoldeten? Selbst Dein Tod hat zu wenig genützt.

Sie wollen immer noch nicht hören, daß sie frei sind und immer waren, vom Anbeginn der Zeiten. Wir wollen immer noch nicht hören.

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private

private inspections

private injections

Gott ist verschwunden

und ein weidwundgedachtes TIER

hält seine Stelle

Von innen her Verwesung, Verstummung, Verleidung

aufhören

zu spüren, zu lachen, zu weinen,

neben die Schuhe gedacht

sich hinweggesponnen

in transparent/durchsichtig undurchdringbare Räume

Sauerstoff

ein anderer, das war damals

Buchstaben, Hitze, Rundkreisel

niemand ist ich, ist niemand

Haß in aseptischer Form

Gnade, Gott, Gnade

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103

Ein Mensch, eine Person, ein Individuum besteht nicht aus einer einzigen geschlossenen Einheit, sondern aus 103 Personen, die einander beim Sprechen, beim Denken, beim Kommunizieren ergänzen, unterstützen, miteinander scherzen und einander ins Wort fallen.

Erinnere mich an Canettis Autobiographie, in der er von seinem Blick auf den Narrenturm erzählt, und von den Charakteren, die er in diesem Ausblick erkennt und mit denen er spricht. Bei ihm war dieses sich-nach-außen-Stülpen in der Zahl von 7 verschiedenen Individuen umgrenzt, in Wirklichkeit sind es aber 103. Erziehung, das Abgestimmt-Werden an die herrschende Auffassung von Realität, an die Moral der Gesellschaft, an die Gesellschaft läßt uns einige dieser Möglichkeiten über Bord werfen und andere Teile unserer Persönlichkeit über Gebühr forcieren.

Dann, eines Tages, wachst Du auf und bemerkst, daß Dein Weg ein Ende gefunden hat, weil du dich auf eine Persönlichkeit festgelegt hast, einer einzigen Person die Führung übergeben und nicht auf den Ratschlag der Anderen gehört.

Viele Menschen kommen mit relativ wenig Charakteren aus, es braucht auch nicht so viele, einer täglichen Arbeit und Routine nachzugehen, eine Frau zu heben und um die Kinder zu sorgen. Als Künstler, als von Gott begnadeter, mit Talenten versehener und beschenkter Mensch habe ich aber die Aufgabe, meinen Horizont so weit wie möglich auszudehnen und auszuleben. Als eine Freundin gestern zu mir meinte, „Bleib am Boden!“, hab ich mir weitere Anreden dieser Art verboten.

Der Mensch, der Geist des Menschen ist zum Fliegen geboren, und jeder, der das verneint, ist ein gottverdammter Lügner! Zurück zur Aufgabe des Künstlers: er muß den Rand der Welt, den Rand der Scheibe, soweit als möglich ausdehnen, um mit seinem Beispiel den anderen Platz zum Leben zu verschaffen; zu zeigen, daß das Leben nicht so begrenzt ist, wie es uns gerne (aus Gründen der Regierbarkeit, der Manipulierbarkeit) weisgemacht wird. Wir haben eine Aufgabe, also laßt sie uns verdammt noch mal aufnehmen, gehen wir zur Arbeit, wir haben nicht mehr viel Zeit!

Also bitte: verlieren wir uns nicht in formalen Spielereien und Fragen des guten Geschmacks, vergessen wir den Teil der Wiener Schule, der allzugern in süßlichem Oberflächenreiz sich erschöpft. Wagen wir den Sprung aus unserem Elfenbeinturm (wir können ja fliegen), expose yourself.

Unsere Talente sind gifts, Geschenke, und sie sind dazu da und vermehren sich, wenn wir sie verschenken. Artists: weiterpassen! Ja, und natürlich: vergessen wir den Humor mein. er würzt unsere allzuoft jämmerliche Existenz als Schuppe auf dem Haar der Welt.

Rülps.

Magic Summer of 90. Love, Hermann

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