Auf dem Titelblatt eines großen österreichischen Wochenmagazins prangte vor kurzem das Bild des nackten Bundeskanzlers mit der Anspielung auf „Des Kaisers neue Kleider“. Natürlich würde der Kanzler sich selbst niemals nackt abbilden lassen. Politiker dürfen sowieso niemals alles zeigen oder aufdecken. Wie kommt nun ein Künstler wie Hermann Staudinger dazu, einen Menschen nackt darzustellen, noch dazu in voller Größe? Ist es narzisstische Selbstentblößung? Will der Künstler provozieren oder schockieren? Was ist der Unterschied zur Pornographieflut, von der wir überschwemmt werden?
Pornographie verfolgt immer einen Zweck. Echte Kunst dagegen ist zweckfrei. Ein Kunstwerk wird nicht geschaffen „um zu“. Der echte Künstler läßt sich nicht auf einen bestimmten Zweck einengen in seinem Schaffen. Er durchbricht die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Zwänge des „um zu“. Er handelt aus einem inneren Antrieb heraus, aus innerer Notwendigkeit.
Er muß sein Werk schaffen, ohne zu fragen, oh es gefällt oder ankommt. Die vielgepriesene Freiheit des Künstlers ist eher eine Notwendigkeit, der sich der Künstler freiwillig unterzieht. Aber obwohl oder gerade weil das Kunstwerk keinem Zweck dient, hat es tiefen Sinn; hat es eine Aussage für den, der sich darauf einläßt. Worin könnte die Aussage, die Botschaft dieser Ausstellung bestehen?
Kleidung, das bedeutet einmal Schutz. Wer seine Kleider ablegt, setzt sich der Verletzbarkeit aus. Das tut Hermann Staudinger bewußt. Mit der Kleidung kann ich auch etwas zudecken, verhüllen, verbergen, z.B. einen körperlichen Mangel.
Und „Kleider machen Leute“. Ich kann etwas aus mir machen, wenn ich mich entsprechend anziehe. Ich mache eine gute Erscheinung. Mache mehr aus mir, als ich bin. Und wenn ich nun auf meine Kleider verzichte, was bin ich dann?
Im Falle der „neuen Kleider des Kaisers“, bzw. Kanzlers, wollte das kritische Magazin natürlich die Feststellung des Kindes, das als einziges die nackte Wahrheit ausspricht, wiedergeben: „Der ist ja nackt!“ Seine Taschen sind leer.
Nacktheit hat etwas zu tun mit Haben oder vielmehr Nicht-Haben. Es geht um Werk von Hermann Staudinger um die Frage: Haben oder Sein, Es ist die Frage, um die es grundsätzlich in unserer modernen Gesellschaft geht, wie Erich Fromm meint, der dieser Frage ein ganzes Buch gewidmet hat. Noch nie im Laufe der Menschheitsgeschichte konnte der Mensch soviel haben, sich mit so vielen Dingen umgeben. Sein ganzes Leben strebt der Mensch danach, mehr zu haben, mehr und immer noch mehr. Und dabei verliert der Mensch den Blick für das Sein, für das Einfach-Sein, das Einfach-Dasein. Vergißt einfach zu leben.
Ich habe Hermann Staudinger kennengelernt, als er zu einem meiner Meditations-seminare kam, um Zen zu praktizieren. Im Grunde geht es eben darum zu erfahren: „Wer bin ich?"“, geht es um die Erfahrung des nackten Selbst, nach dem Durchstoßen aller Illusionen und Selbsttäuschungen.
Wie Hermann Staudinger mir die Idee und das Konzept dieser Ausstellung zum ersten Mal vorstellte, sagte ich spontan zu ihm: „Das ist ja reinster Eckehart, das ist das Grundkonzept Meister Eckeharts". Wenn Erich Fromm von Haben und Sein spricht, so hat er Meister Eckehart aufgegriffen. Was Eckehart so modern macht, ist eben dies: Wir spüren alle, dass es nicht so weitergehen kann mit dem Mehr und ImmerMehr. Und dass die Lösung nicht im Sparpaket liegen kann. Wir merken, dass wir mit dem Uns-mit-immer-mehr-Umgeben und dafür immer-mehr-Produzieren und immer-mehr-Agieren-und-Rotieren uns immer mehr von uns selbst entfernen, uns uns selbst entfremden, den Kontakt mit uns selbst verlieren, mit dem, was wir sind.
Darum aber ginge es doch. Was wir haben, das können wir verlieren. Was wir uns zugelegt haben, kann uns auch entrissen werden. Und auch das Tun und Agieren kann uns genommen werden. Aber was wir sind, das kann uns niemand nehmen. Meister Eckehart sagt einmal:
„Die Leute sollten nicht soviel überlegen, was sie tun sollten; sie sollten vielmehr bedenken, was sie sind.“ Das Tun folgt aus dem Sein und nicht umgekehrt. So aber will es unsere Gesellschaft: „Hast du was, bist du was. Kannst du was, so bist du was.“ Wir finden also unsere Identität in dem, was wir haben und leisten, statt in dem, was wir sind.
So braucht es nicht zu verwundern, wenn Meister Eckehart immer wieder spricht von „Ledigsein“, uns „entledigen“, von „bloß“. „entblößt“, „nackt“, und „unverhüllt“. Es geht ihm um das nackte Sein und die unverhüllte Wirklichkeit dessen, was ist und darum um das Bloßlegen und Wegnehmen von allem Zugelegten und Hinzugefügten, bis das reine Wesen, das wesenhafte Sein zu Tage tritt. Wie es später Angelus Silesius formulieren wird: „Mensch, werde wesentlich!“
Frappieren mag uns vielleicht, wenn Meister Eckehart auch dann, wenn es um Gott geht, von „bloß“ und „nackt“ spricht. Dass wir Gott bloß und nackt nehmen müssen. Er spricht ganz anschaulich davon, dass wir Gott nehmen sollen „in der Kleiderkammer“, bevor ihm die Kleider angelegt werden. Das ist es ja, glaube ich, warum viele heute nichts von Gott mehr hören können, weil man ihm zu viele Kleider umgehängt hat, oft lächerliche.
Gott oder die Gottheit, wie Eckehart sagt, ist in seiner Bloßheit reines Sein. Das heißt, er ist. Das aber schlechthin und fraglos. Wie Gott in der Bibel von Moses gefragt wird, wie er heißt, antwortet er einfach: „Ich bin da. lch bin der Ich-Bin-Da“. Gott hat es nicht nötig, etwas zu haben oder etwas zu tun. Er ist, er ist alles. Sein ganzes Wesen ist Sein, Dasein. Und wir ahnen es: einfach dasein können; sein können, der man ist; sagen können: Ich bin – etwas Größeres kann es nicht geben.
Können wir etwas dazu tun, um zu dieser befreienden Erfahrung des einfachen Daseins zu kommen? Erich Fromm antwortet auf die Frage: „Was sollte der Mensch denn tun?“ – „Zunächst einmal ...Meditation; dass der Mensch lernt, einfach er selbst zu sein, nichts zu tun und in einen Zustand der Harmonie mit sich selbst zu kommen.“
Nichts tun, das führt den Menschen dahin, sein Nackt- und Bloßsein zu erkennen und auszuhalten. Man zieht sich nicht immer freiwillig aus. Oft werden einem die Kleider vom Leib gerissen in äußeren und inneren Erschütterungen und Krisen. Davon könnte uns Hermann Staudinger einiges berichten aus seiner Laufbahn. In einem Brief hat er mir vor einem Jahr geschrieben: „Dass ich da immer Krisen brauche, um auf mich selbst zu stoßen!“ er spricht darin aber auch von „meiner heiligen innersten Einsamkeit“. Ist das nicht dieses einfach Dasein? Und er erwähnt ein Wort von Jimenez: „reine Einsamkeit Deines schweigenden und sicheren Wesens“.
Lassen Sie mich schließen mit einem Wort Meister Eckeharts: „Wäre der Mensch ganz und gar entblößt und enthüllt von allen Mitteln, so wäre auch Gott für ihn entblößt und enthüllt und Gott würde sich ihm ganz und gar geben“. (DW P 69)