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H.S.: Da sein: 103

Da sein, Ausstellung im öffentlichen Raum
Linz 1996 
Auszug aus dem Katalog

Ein Mensch, eine Person, ein Individuum besteht nicht aus einer einzigen geschlossenen Einheit, sondern aus 103 Personen, die einander beim Sprechen, beim Denken, beim Kommunizieren ergänzen, unterstützen, miteinander scherzen und einander ins Wort fallen.

Erinnere mich an Canettis Autobiographie, in der er von seinem Blick auf den Narrenturm erzählt, und von den Charakteren, die er in diesem Ausblick erkennt und mit denen er spricht. Bei ihm war dieses sich-nach-außen-Stülpen in der Zahl von 7 verschiedenen Individuen umgrenzt, in Wirklichkeit sind es aber 103. Erziehung, das Abgestimmt-Werden an die herrschende Auffassung von Realität, an die Moral der Gesellschaft, an die Gesellschaft läßt uns einige dieser Möglichkeiten über Bord werfen und andere Teile unserer Persönlichkeit über Gebühr forcieren.

Dann, eines Tages, wachst Du auf und bemerkst, daß Dein Weg ein Ende gefunden hat, weil du dich auf eine Persönlichkeit festgelegt hast, einer einzigen Person die Führung übergeben und nicht auf den Ratschlag der Anderen gehört.

Viele Menschen kommen mit relativ wenig Charakteren aus, es braucht auch nicht so viele, einer täglichen Arbeit und Routine nachzugehen, eine Frau zu heben und um die Kinder zu sorgen. Als Künstler, als von Gott begnadeter, mit Talenten versehener und beschenkter Mensch habe ich aber die Aufgabe, meinen Horizont so weit wie möglich auszudehnen und auszuleben. Als eine Freundin gestern zu mir meinte, „Bleib am Boden!“, hab ich mir weitere Anreden dieser Art verboten.

Der Mensch, der Geist des Menschen ist zum Fliegen geboren, und jeder, der das verneint, ist ein gottverdammter Lügner! Zurück zur Aufgabe des Künstlers: er muß den Rand der Welt, den Rand der Scheibe, soweit als möglich ausdehnen, um mit seinem Beispiel den anderen Platz zum Leben zu verschaffen; zu zeigen, daß das Leben nicht so begrenzt ist, wie es uns gerne (aus Gründen der Regierbarkeit, der Manipulierbarkeit) weisgemacht wird. Wir haben eine Aufgabe, also laßt sie uns verdammt noch mal aufnehmen, gehen wir zur Arbeit, wir haben nicht mehr viel Zeit!

Also bitte: verlieren wir uns nicht in formalen Spielereien und Fragen des guten Geschmacks, vergessen wir den Teil der Wiener Schule, der allzugern in süßlichem Oberflächenreiz sich erschöpft. Wagen wir den Sprung aus unserem Elfenbeinturm (wir können ja fliegen), expose yourself.

Unsere Talente sind gifts, Geschenke, und sie sind dazu da und vermehren sich, wenn wir sie verschenken. Artists: weiterpassen! Ja, und natürlich: vergessen wir den Humor nicht: er würzt unsere allzuoft jämmerliche Existenz als Schuppe auf dem Haar der Welt.

Rülps.

Magic Summer of 90. Love, Hermann